
Schmerzmitteltherapie oft unnötig riskant
Quelle: Barmer Bayern
Patientinnen und Patienten in Bayern bekommen häufig für sie ungeeignete Schmerzmittel verordnet. Das geht aus dem Arzneimittelreport 2023 der BARMER hervor. Er untersucht die medikamentöse Schmerztherapie von ambulant behandelten BARMER-Versicherten ab 18 Jahren ohne Tumordiagnose. Demnach hat in Bayern etwa jeder dritte Erwachsene (30,3 Prozent) dieser Personengruppe im Jahr 2021 mindestens ein Schmerzmedikament ambulant verordnet bekommen. Hochgerechnet entspricht das drei Millionen Menschen im Land. Bedenklich dabei ist, dass beispielsweise rund 96.000 Versicherten trotz Herzinsuffizienz nicht-steroidale Antirheumatika (NSAR) wie Ibuprofen oder Diclofenac verschrieben wurden. Dabei raten medizinische Leitlinien davon ab, da auch ein nur kurzer Einsatz von Schmerzmedikamenten die Leistung des Herzens deutlich verschlechtern kann. Durch eine inadäquate Schmerzmitteltherapie kann es sowohl zu vermehrten Krankenhausaufenthalten als auch zur Steigerung des Sterberisikos kommen. „Gerade die Kombination vermeintlich harmloser Schmerzmittel kann fatale Folgen haben. Die meist durch mehrere Ärztinnen und Ärzte verordnete Therapie ist ohne digitale Unterstützung kaum mehr überschaubar“, sagt Alfred Kindshofer, Landesgeschäftsführer der BARMER in Bayern. Er fordere den konsequenten und verbindlichen Einsatz digitaler Helfer in der Arzneimittel-Versorgung, um den Überblick über die Gesamtmedikation und alle Neben- und Wechselwirkungen zu behalten.
Riskante Medikamenten-Kombinationen gerade bei Älteren
Der Arzneimittelreport zeigt, dass Frauen in Bayern je nach Altersgruppe zehn bis 25 Prozent häufiger als Männer Schmerzmittel-Verordnungen erhalten. Darüber hinaus ist die Verordnungshäufigkeit von Schmerzmitteln deutlich altersabhängig: Bei den Versicherten ab 80 Jahren hat mindestens jeder Zweite eine entsprechende Verordnung bekommen. Insbesondere bei den hochbetagten Menschen kann dies schnell zu Problemen führen. So sollten Betroffene mit eingeschränkter Nierenfunktion NSAR nicht einnehmen, weil diese zu plötzlichem Nierenversagen führen könnte. Aus dem Arzneimittelreport geht allerdings hervor, dass der Anteil an Patientinnen und Patienten mit Niereninsuffizienz, die Schmerzmittel einnehmen, in der Altersgruppe der 80-Jährigen dreißigmal höher ist als bei den unter 65-Jährigen. Dies ist umso bedenklicher, da der Report das tatsächliche Ausmaß der Schmerzmitteleinnahme nicht komplett abbilden kann. Denn Schmerzmittel wie Ibuprofen, Diclofenac und Co. sind auch rezeptfrei erhältlich. Behandelnden Ärztinnen und Ärzten fehlt die Kenntnis über diese Medikamenteneinnahme, wenn Patienten nicht berichten, dass sie rezeptfreie Präparate einnehmen. „Risiken der Selbstmedikation dürfen gerade bei Schmerzmitteln nicht unterschätzt werden. Sichere Selbstmedikation ist daher ein wichtiges Thema, bei dem die BARMER im Rahmen ihrer elektronischen Patientenakte eCare ihre Versicherten patientenspezifisch unterstützt“, sagt Kindshofer.
Langfristige Schmerztherapie
Aus dem Arzneimittelreport der BARMER geht weiter hervor, dass verhältnismäßig viele Menschen in Bayern langfristig mit Schmerzmitteln behandelt werden. Dabei wird die kontinuierliche Behandlung mit Schmerzmedikamenten über einen Zeitraum von mindestens 91 Tagen als Langzeittherapie definiert. Im Ergebnis erhielten im Jahr 2021 eine entsprechende Langzeittherapie 3,5 Prozent der Männer, was hochgerechnet 172.000 Personen entspricht. Bei den Frauen waren es 4,9 Prozent beziehungsweise hochgerechnet 250.000 Personen
Dillingen an der Donau hat bundesweit die wenigsten Schmerzpatienten
In keiner anderen Region in Deutschland ist die Rate an chronischen Schmerzpatientinnen und -patienten niedriger als im Landkreis Dillingen an der Donau. 279 je 10.000 Einwohnerinnen und Einwohner leiden dort länger als sechs Monate an Schmerzen. Landesweites Schlusslicht ist Landshut mit 856 Betroffenen je 10.000 Einwohner. Das geht aus dem Schmerz-Atlas des BARMER Instituts für Gesundheitssystemforschung (bifg) hervor, der Abrechnungsdaten aus dem Jahr 2021 analysiert hat. Demnach leiden in Bayern 499 je 10.000 Einwohner an chronischem Schmerz. Damit liegt der Südosten der Republik um 13 Prozent unter dem Bundesschnitt von 571 je 10.000 Einwohner. „Schmerz macht den Alltag zur Tortur. Betroffene benötigen im Bedarfsfall eine ganzheitliche, multimodale Schmerztherapie. Sie soll verhindern, dass sich der Schmerz noch weiter chronifiziert“, sagt Alfred Kindshofer. Wichtig sei zuerst eine umfassende Schmerzdiagnostik. Die BARMER biete ihren Versicherten dazu ein ambulantes interdisziplinäres multimodales Assessment an, kurz A-IMA. Diese neue Form der Untersuchung werde von Fachleuten verschiedener Disziplinen durchgeführt. Denn Schmerz habe viele Facetten und in der Regel nicht nur eine Ursache. Wenn es die Situation erfordere, könne darauf mit einer multimodalen Schmerztherapie individuell und ganzheitlich reagiert werden. Die multimodale Schmerztherapie erfolge im Rahmen des Innovationsfondsprojektes PAIN2.0, an dem unter anderem die Deutsche Schmerzgesellschaft und die BARMER beteiligt seien. Dessen Ergebnisse würden wissenschaftlich evaluiert und sollten bei positiver Bewertung in die Regelversorgung übernommen werden.
Deutschlandweit zukunftsträchtig: erster Lehrstuhl Schmerzmedizin am Universitätsklinikum Würzburg
Das unterstützt auch Professorin Dr. Heike Rittner vom Universitätsklinikum Würzburg (UKW), die im November dort den neu geschaffenen Lehrstuhl Schmerzmedizin angetreten hat. „Wir möchten gemeinsam mit allen beteiligten Disziplinen die Ursachen von Schmerzerkrankungen besser verstehen, um daraus individuell zugeschnittene Therapien zu entwickeln. In den letzten 20 Jahren haben wir so viel dazugelernt, was von der Schmerzfaser bis zum Gehirn beim chronischen Schmerz passiert, dass es jetzt gilt, das umzusetzen.“ Parallel dazu müssten sich alle beteiligten Disziplinen in gemeinsamen Konzepten aus- und weiterbilden – also sowohl diejenigen in der Ausbildung und im Studium, als auch die Profis vor Ort. Zukünftig dürfe es nicht so sein, dass Schmerzpatientinnen und Schmerzpatienten zu 75 Prozent über eine Stunde Anfahrt zu einer interdisziplinären multimodalen teilstationären Therapie bräuchten. Hier seien bundesweit flächendeckende abgestufte evidenzbasierte Therapieangebote unabdingbar.
Chronischer Schmerz ist eine eigenständige Erkrankung
Bei chronischem Schmerz sei es wichtig, einen ganzheitlichen Behandlungsansatz zu verfolgen. Denn der dauerhafte Schmerz sei nicht nur ein alleiniges körperliches Leiden, so Kindshofer. Auch die Seele spiele hierbei eine große Rolle. So litten in Deutschland zum Beispiel 39 Prozent der Personen mit chronischem Schmerz zugleich auch an einer Depression. Der multimodale Behandlungsansatz verbinde physiotherapeutische mit psychotherapeutischen Therapieansätzen. Darüber hinaus würden soziale Aspekte in die Therapie integriert. Dabei gehe es zum Beispiel darum, wie Schmerzpatienten trotz ihrer Erkrankung weiter arbeitsfähig bleiben könnten oder wie sie im Zweifelsfall mit dem Verlust des Arbeitsplatzes umgingen.